Im Geschichtsunterricht fehlen auf Sekundarstufe I&II Erlebnisberichte zum 2. Weltkrieg aus Sicht der damaligen Schweizer Jugend. Erika Bigler, Sekundarlehrerin in Mettmenstetten, hat deshalb ein Projekt lanciert, um Lehrkräfte bei der Behandlung des Holocaust zu unterstützen. Auf ihre Initiative ist das digitale Buch «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg», welches vom EDK als grundlegendes Lehrmittel empfohlen wird, entstanden. Dabei nutzt sie die Möglichkeiten, Inhalte interaktiv zu vermitteln.
Sie haben die Projektidee des digitalen Buchs «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» lanciert. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen und was steckt dahinter?
Erika Bigler: Früher habe ich die Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht ihre Grosseltern zum Erleben der Zeit während des Zweiten Weltkriegs befragen lassen. Da mehr und mehr dieser Zeitzeuginnen und -zeugen verstarben, suchte ich nach einer Idee, diese Geschichten für kommende Generationen erlebbar zu machen. In diesem Prozess entstand das Projekt des digitalen Buches. Der Zugang erfolgt über das Internet: «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg». Es beinhaltet Videos von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die den Krieg als Kinder und/oder Jugendliche in allen vier Sprachregionen der Schweiz erlebt haben, sowie Zeitzeugen, die vor dem Holocaust in die Schweiz geflüchtet sind. Jugendliche sollen mittels «Oral History» einen neuen Zugang zu Geschichte erhalten. Das digitale Buch kann über das Smartphone (ältere iPhones benötigen die Klynt App), iPad oder den Computer erkundet werden. Dies entspricht der Leseart der heutigen Jugendlichen.
Das digitale Buch wurde im Mai 2020 anlässlich «75 Jahre Kriegsende» lanciert. Welches Feedback hören Sie nach bald drei Jahren von Lehrern und Schülern?
Das digitale Buch «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» wurde mitten im Lockdown, zum Anlass «75 Jahre Kriegsende», am 8. Mai 2020, lanciert. Damals fehlten digitale Lehrmittel in Geschichte noch weitgehend. Das digitale Buch stiess bei den Lehrpersonen auf grosses Interesse, da es im Klassenverband, aber auch individuell auf iPads eingesetzt werden kann. Zudem stehen den Lehrpersonen Ideen für den Unterricht und Arbeitsblätter mit Lösungen zur kostenfreien Verfügung.
Kurz nach der Lancierung meldeten sich zwei Masterstudentinnen aus Basel, die sich ebenfalls mit «Oral History» befassten. Teile ihrer Arbeit konnten ins digitale Buch übernommen werden. Von der Pädagogischen Hochschule Bern meldete sich der Geschichtsdozent Andreas Stadelmann, der mit seinen Studierenden das digitale Buch thematisierte. Unterdessen haben drei Studierende Masterarbeiten mit Unterrichtsmaterialien verfasst, die wieder in die Unterrichtseinheiten integriert wurden. An der Pädagogischen Hochschule St. Gallen konnte ich zudem 2022 eine Lehrerweiterbildung zum Thema lancieren, die bei den Lehrpersonen auf grosses Interesse stiess.
Wann und wo wird dieses Lehrmittel eingesetzt?
Das digitale Buch «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» wird im Geschichtsunterricht auf den Sekundarstufen I und II eingesetzt. Dies ist auf der Sekundarstufe I während der Thematik des Zweiten Weltkriegs in der 3. Sekundarstufe aktuell.
Können Sie das digitale Buch «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» beschreiben, und welche Möglichkeiten bietet es den Schülerinnen und Schüler?
Das digitale Buch (Sekundarstufe I und II) umfasst Zeitzeugnisse zu Kriegserlebnissen der Schweizer Jugend während des Zweiten Weltkriegs aus allen vier Sprachregionen. Menschen mit verschiedenen kulturellen, religiösen und geografischen Hintergründen teilen ihre Erlebnisse auf Videos, die thematisch oder als ganze Geschichten angesehen werden können. Weiter können kurze historische Fakten und Fotos der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen angeklickt werden. Historisches Filmmaterial zum Zweiten Weltkrieg gibt dem Betrachter einen grösseren Gesamtzusammenhang. Die Schülerinnen und Schüler können die Themen in ihrem eigenen Lerntempo und nach ihren spezifischen Interessen selbständig oder im Klassenverband geführt erkunden. Geschichte wird somit interaktiv und innovativ vermittelt und trägt zur kritischen Auseinandersetzung bei.
Als Präsidentin des Vereins für zeitgemässes Lernen und Projektleiterin haben Sie das digitale Buch mittels Fördergeldern finanziert, so dass für die Schule keine Kosten entstanden sind. Wer hat sich daran beteiligt?
Es war eine grosse Herausforderung als Privatperson ein solches Projekt zu starten. An den «International Study Days» in Lausanne konnte ich den Prototyp des digitalen Buches 2018 erstmals vor einer Fachjury präsentieren. Dort wurde ich ermutigt weiterzumachen und über Fördergelder die nötigen finanziellen Mittel zu generieren. Bei der Suche nach Geldern stellte ich fest, dass ich einen Verein gründen musste, um überhaupt an Gelder zu gelangen. Stiftungen mit dem Ziel der Förderung von Bildung und Kulturvermittlung, Stiftungen, die sich gegen Antisemitismus und Rassismus engagieren, sowie Privatpersonen haben das Projekt finanziell möglich gemacht.
Mit der «Gamaraal Fondation» und «The Last Holocaust Survivors» entstand eine weitere Kooperation, in dem Videos von Holocaust Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ins digitale Buch integriert werden konnten. Sie haben auch schon eine Zeitzeugin an die Schule eingeladen. Wie reagieren Schülerinnen und Schüler darauf und was sind die häufigsten Fragen, die Ihnen in diesem Zusammenhang unter den Nägeln brennen?
An meiner Sekundarschule veranstalteten wir für alle 3. Sek Klassen einen Anlass mit der Zeitzeugin Agnes Hirschi. Sie berichtete eindrücklich, wie sie dank des Schweizer Vize-Konsuls, Carl Lutz, als Kind den Krieg in Budapest überlebte. Aussagen, wie von Ronja: «Der Vortrag von Frau Hirschi war sehr spannend, aber auch schockierend. Ich war beeindruckt, wie sie alle ihre Erinnerungen lebendig weitergeben konnte», zeigen, wie wichtig die Begegnung mit Zeitzeugen heute ist. Häufig fragen die Schülerinnen und Schüler auch, wie die Zeitzeugen mit ihrem Erlebten und ihren Ängsten während des Krieges umgehen, oder ob sie heute auch noch Antisemitismus erleben.
Bekommt «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» im Zusammenhang mit dem aktuellen Nahostkonflikt und der erneuten Thematik der Antisemitismus eine neue Bedeutung?
Es ist erschreckend zu sehen, wie massiv antisemitische Äusserungen in der Schweiz in den letzten Wochen zugenommen haben. Es scheint fast, als würden Antisemitismus und Rassismus auch bei uns unter der Oberfläche schlummern. Bildung und Aufklärung über geschichtliche Fakten ist daher heute nötiger denn je.
Wie sensibilisiert sind die Schülerinnen und Schüler bezüglich des Antisemitismus. Welche Beobachtungen machen Sie da?
Die Schülerinnen und Schüler sind grundsätzlich an der Thematik des Zweiten Weltkriegs sehr interessiert. Durch den Ukraine Krieg ist die Thematik bei uns wieder greifbarer geworden, haben wir doch auch ukrainische Kinder in unseren Klassen. Symbole, wie das Hakenkreuz, faszinieren Jugendliche immer wieder. Da gilt es hinzusehen und aufzuklären. Oft ist es Unwissen, welches Jugendliche zu Kritzeleien hinreisst.
Wie gerne greifen Lehrpersonen das Thema zweiten Weltkrieg und Antisemitismus auf und benutzen dazu ihr digitales Buch als Lehrmittel?
Lehrpersonen handhaben die Bearbeitung des Zweiten Weltkriegs unterschiedlich. Im offiziellen Lehrmittel ist die Thematik auf einige Seiten geschrumpft. Lehrpersonen schätzen sicherlich das digitale Buch mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Videos, weil sie Geschichten von realen Menschen erzählen und so den Jugendlichen näherkommen, als ein «trockenes» Geschichtsbuch. Andere fühlen sich selbst überfordert mit der Thematik und all dem Leid, dass sie dieses Kapitel eher oberflächlich streifen.
Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der jüdischen Geschichte, dem Antisemitismus und Rassismus!
Ich kam selbst in der Schule erstmals mit der Thematik in Kontakt. Das Leid des Holocaust hat mich als Jugendliche tief berührt. Ich habe mir damals versprochen, ich würde in meinem Leben alles daransetzen, dass so etwas nie wieder geschehen könne. In der Bildung habe ich eine Möglichkeit, Menschen darüber aufzuklären.
Eine Holocaust Zeitzeugin hat die Sekundarschule in Mettmenstetten besucht. Welche Projekte haben Sie als Präsidentin des Vereins für zeitgemässes Lernen geplant?
Im Frühjahr 2024 werde ich erneut eine Lehrerfortbildung an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen zum digitalen Buch halten. Ein Anlass mit einem Holocaust Zeitzeugen ist auch für nächstes Jahr an der Sekundarschule in Planung. Aufklärung bezüglich Antisemitismus und Rassismus im Unterricht ist wichtiger denn je und wird aktuell in meinem Wahlfachunterricht thematisiert.
Wie werden Sie das Online-Lehrmittel künftig ausbauen?
Das digitale Buch «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» ist weiter ausbaubar, da es keine festen Buchseiten beinhaltet, sondern digitale. Aktuell werden Unterrichtsmaterialien einer weiteren Masterarbeit bereitgestellt, wo es um die Grenzschliessung und die Flucht in die Schweiz geht. Ich bin weiterhin begeistert für dieses Projekt und offen für neue Impulse.
Interview: Corinne Remund
Digitales Buch «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg»
www.ch-jugend2wk.ch